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Zum Gedenken an den 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz und das Ende der Naziherrschaft
Dieburg, 30.1.2020 - Zeitzeugin Edith Erbrich, als Kind eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter 1945 ins KZ Theresienstadt deportiert, teilt mit Schülerinnen und Schülern des Abiturjahrgangs der gymnasialen Oberstufe an der Landrat-Gruber-Schule ihre Erinnerungen an Misshandlung und Befreiung.
Unschätzbare Erinnerungen
Stille herrscht im Raum unter den rund neunzig Schülerinnen und Schülern des Abiturjahrgangs der gymnasialen Oberstufe an der Landrat-Gruber-Schule, gespannte Stille, mitgehende Stille. Die ältere Dame, die vor ihnen sitzt und aus ihrem Leben erzählt, schafft ohne Aufforderung, was im Klassenraum nicht immer gewöhnlich ist: alle lauschen.
Edith Erbrich, geboren am 28. Oktober 1937 im jüdischen Krankenhaus im Frankfurter Ostend, Vater jüdisch, Mutter katholisch, erzählt von ihrer Kindheit in Nazideutschland: dem Bombenhagel, den sie in einfachen Kellern von Mietshäusern erlebte, weil Juden nicht in Luftschutzkellern Zuflucht suchen durften, dem Davidstern, den die Nazis zum Judenstern umdeklarierten und der als Menetekel korrekt sichtbar an der Kleidung getragen werden musste, dem Hunger, dem sie ausgesetzt waren, weil ihr Zugang zur Versorgung noch stärker reglementiert wurde, als der der „normalen“ Bevölkerung und die Arbeit des Vaters verboten wurde, bis hin zu ihrer Deportation am 14. Februar 1945 ins Konzentrationslager Theresienstadt.
Es sind die Erinnerungen eines knapp achtjährigen Ichs, die nun folgen, die Trennung von ihrer Mutti, die sich weigert, die „Mischehe“ scheiden zu lassen und daher das Gefängnis wählt, und der Transport im Viehwagon mit ihrem Vater, der vier Jahre älteren Schwester und viel zu vielen anderen Menschen, die tagelang in diesem Raum zusammengepfercht die dünne Luft atmen, wachen, schlafen, ihre Notdurft verrichten und auf das Ziel warten, von dem es heißt, dass sie zum Arbeitseinsatz kämen.
Es sind die unfassbar unmenschlichen Erinnerungen, die sich einprägen, und es sind die Menschen, die Edith Erbrich begegnet sind, deren Hilfe sie betont, die verdeutlichen, wozu Menschen in der Lage sind. Auf den frankierten Postkarten, die der umsichtige Vater mitgenommen hat, schreibt er Nachrichten an die Mutter und wirft sie aus dem Viehwagon auf die Gleise. Menschen heben sie auf, werfen sie in Briefkästen und sie kommen an. Sie existieren noch heute, diese Schriftstücke des Vaters, unschätzbare Erinnerungen für die Tochter.
Der Transport ist nicht das Schlimmste für das kleine Mädchen, die Trennung von Vater und großer Schwester folgt; das Ordnungssystem des „Vorzeigelagers“ Theresienstadt, in dem internationale Organisationen sich vom Drehbuch der Nazis blenden lassen und weder Misshandlung noch Tod riechen, duldet keine menschlichen Bindungen.
Die Doppelmoral der Aufseher*innen ist es, die Edith Erbrich auch heute noch an die Grenze ihrer Fähigkeit, die Vorgänge nachzuvollziehen, bringt. Wie kann eine Aufseherin ein kleines, halb verhungertes Mädchen dabei observieren, wie dieses als Strafmaßnahme mit einer Zahnbürste einen Boden säubert, und sich abends scherzend und liebevoll mit den eigenen Kindern an den
Abendbrottisch setzen? Wie ist es möglich, dass ein Mensch gegenüber anderen Menschen sein Gefühl abschaltet – und es damit begründet, dass diese Menschen anders sind?
Es gibt immer wieder die helfenden, die im richtigen Moment wegguckenden, die verdeckt handelnden Menschen, und sie sind es, die Edith Erbrich hervorhebt, die Hoffnung machen, die Zukunft versprechen.
Die russischen Truppen befreien auch das KZ Theresienstadt am 7./8. Mai 1945. Viel später erfährt Edith Erbrich, dass ihr Todestermin eigentlich schon feststand: am 9. Mai hätte sie in Ausschwitz vergast werden sollen.
Sie lebt und die Kriegserlebnisse werden verdrängt. Die Mutti, mit der man endlich wieder vereint ist, organisiert ein normales Familienleben. Schule, Ausbildung, Heiraten, Arbeiten, es geht darum, im Hier und Jetzt zu sein. Erst im Ruhestand holt die Referentin das Geschehene wieder ein. Sie beginnt, sich zu erinnern, um vor allem junge Menschen an einem Lebensabschnitt teilhaben zu lassen, der nur in der authentischen Erzählung zur Wirklichkeit wird. Sie kämpft für ein Mahnmal in Frankfurt, an dem Platz vor der heutigen EZB, an dem Tausende Juden und Jüdinnen sich sammeln mussten, um in den organisierten Tod transportiert zu werden – und gewinnt; nicht für sich, wie sie betont, sondern um das Vergessen zu verhindern.
Die Schülerinnen und Schüler zeigen keine Scheu, diese Frau, die so offen über ihre Ängste und Verletzungen gesprochen hat, weiter zu befragen. Ob sie den Tätern die Todesstrafe gewünscht habe? Nein, antwortet Erbrich, das wäre doch eine zu schnelle Erlösung gewesen. Ob sie die Konfrontation mit den Tätern gesucht oder irgendwann gefunden hätte? Auf gar keinen Fall, entgegnet die alte Dame, sie könne sich auch heute noch keine Situation vorstellen, in der eine Annäherung möglich oder ihr sinnvoll erschiene. Aber sie suche die Begegnung mit Menschen, die eine humane Gesellschaft gestalten können. Das sei der Grund, warum sie immer wieder Schulen besuche, sich mit jungen Menschen über ihre Erlebnisse auseinandersetze. Die jungen Menschen, die um sie versammelt sind, verstehen, dass sie gemeint sind. Betroffen, interessiert, nachdenklich wirken die Anwesenden, keinesfalls unberührt.
Die Resonanz ist eindeutig: Wie gut, dass es noch Zeitzeug*innen wie Edith Erbrich gibt, die das Erinnern ermöglichen. Auch andere Schulformen der Landrat-Gruber-Schule hoffen auf ihren nächsten Besuch.
Von Birgit Konstantin